Eine biografische Annäherung an Frank Bähler (1924–1985)
Text: Barbara Traber
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Ein deutscher Junge wird in Aarau adoptiert
Weshalb kam die unverheiratete Schweizerin Dr. Luzia Emma Bähler dazu, das aus Deutschland stammende Kind Frank Reiser, dessen Eltern noch lebten, zu adoptieren? Die Adoptivurkunde wurde am 26. März 1934 ausgestellt. Frank, der von nun an Bähler hiess, war damals schon fast zehn Jahre alt. Die Kindesannahme erfolgte laut öffentlicher Adoptionsurkunde ohne jede Beschränkung in familien- oder erbrechtlicher Beziehung. Doch schon als kleiner Junge muss Frank kürzere oder längere Ferien in der Schweiz verbracht haben, es gibt Fotos von 1930, in Aarau aufgenommen. Der Bub, blond, etwas schüchtern und wie ein Mädchen wirkend, sitzt in der Küche auf dem Schoss seiner zukünftigen Adoptivmutter; auf einem weiteren Bild – 1930 in Aarau, im Garten – hält sie mütterlich-zärtlich seine Hand. Ein andermal sieht man ihn auf einem Fenstersims des Aargauer Hauses an der Zelglistrasse, mit einem verträumten Ausdruck in die Ferne blickend. |
Bilder aus den frühen Jahren des Kleinkindes figurieren ebenfalls im Nachlass: Frank mit einer hübschen jungen Frau, vermutlich der «richtigen» Mutter. Ein anderes Foto zeigt das Kleinkind im Garten (in Deutschland), und daneben steht ein Gedicht einer Anneliese Braun:
Als ich dich trug, mein kleiner Freund,
hab’ oftmals ich vor Glück geweint, nun läufst auf strammen Beinchen du dem großen Strom des Lebens zu. Und rufst dabei so dann und wann: «Guck mal, wie schnell ich laufen kann!» |
Aus der Privatkorrespondenz von Dr. Luzia Emma Bähler, die im Gosteli-Archiv in Worblaufen aufbewahrt wird – leider handelt es sich nur um Briefe an sie –, ist nicht ersichtlich, auf welchem Weg sie mit der Familie Reiser in Kontakt kam. Ihr Privatleben scheint Dr. Bähler sehr diskret behandelt zu haben. Aus Briefen von Freundinnen lässt sich jedoch eindeutig feststellen, dass sie in Aarau mit Frida Humbel, genannt «Humbeli», zusammenlebte. Die beiden Frauen müssen sich an der Töchterschule Zürich kennen gelernt haben, beide waren dort einige Jahre als Lehrerinnen tätig. Frida Humbel, promovierte Historikerin, unterrichtete danach am Lehrerseminar in Aarau, was der Grund gewesen sein mag, dass die Frauen dorthin zogen. Sie waren beide auch Mitarbeiterinnen beim Archiv für schweizerisches Unterrichtswesen und gaben ab 1927 bis 1939 die literarisch-religiöse Zeitschrift «Die Besinnung» mit Sitz in Aarau heraus. Vermutlich taten sich die beiden unverheirateten Akademikerinnen als Lebensgefährtinnen zusammen, wie dies in jener Zeit bei emanzipierten Frauen öfters vorkam; ob als Zweckgemeinschaft oder auch aus Zuneigung ist unwichtig, in jener Zeit war Gleichgeschlechtlichkeit ein Tabu.
Frank bekam dadurch ein pädagogisch bestens ausgebildetes (Eltern)-Paar und verbrachte eine schöne Jugend. Er erhielt mütterliche Liebe von zwei Frauen zugleich, die sich gut ergänzten, und wurde nach Kräften gefördert und nach moralisch hochstehenden Grundsätzen erzogen. Schon früh zeigte sich seine zeichnerische Begabung, seine Adoptivmutter – sie war selber musisch vielseitig talentiert – bewahrte Kinderzeichnungen von ihm auf und eine Geschichte, die er mit acht Jahren schrieb. Auf den Fotos jener Jahre wirkt Frank munter, aufgeweckt, ja glücklich: oft mit einem Hund an seiner Seite, der wahrscheinlich Joggeli hiess (in einem Brief erwähnt), aber auch eine Katze fehlte im Haushalt nicht; beim improvisierten Zelten im Garten oder beim Spielen mit Gery Speidel, dem etwas älteren Sohn des damaligen Rektors des Aargauer Lehrerinnenseminars.
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Auf einer Postkarte ist der Jugendliche in schneidiger Uniform abgebildet, und stolz schreibt er dazu: «Liebe Omama! Du siehst mich in meiner Kadettenuniform. Wie gefalle ich Dir? Viele liebe Küsse mein liebes Omachen, von deinem Enkel Frank. Weihnachtsgrüsse von Mueti und Humbeli.» Sogar eine liebevolle Grossmutter gab es folglich in seinem Leben (vermutlich die Mutter von Luzia Emma Bähler), an der er sehr hing. Die Ferien durfte Frank mit seinen «Müttern» jeweils in Ascona im Ferienhaus «Casa Lucia» verbringen, das die Damen gemietet hatten oder das ihnen sogar gehörte. Dort könnte seine spätere Leidenschaft für das Segeln begonnen haben. Der sportliche junge Mann lernte auch das Segelfliegen und machte 1942 in Aarau den Segelflugausweis des Aero-Clubs der Schweiz.
1939 blickt Frank auf einem Passfoto, nun ein attraktiver junger Mann, korrekt in Anzug mit weissem Hemd und Krawatte gekleidet, voller Zuversicht in die Zukunft. Er erhielt die Möglichkeit, Kunst- und Architekturgeschichte an der Universität und der ETH in Zürich zu studieren und belegte anschliessend weitere Semester an der Graduate School of Design der Harvard University Massachusetts. Als Erwachsener blieb er seinen beiden Erzieherinnen dankbar verbunden, was ein Bild aus späteren Jahren veranschaulicht, das bei einem Besuch gemacht wurde: Da sitzt er, mit bereits etwas gelichtetem Haaransatz, neben den beiden inzwischen weisshaarigen alten Damen in einem Garten.
Blumen – Bilder – Bücher Dr. Luzia Emma Bähler, geboren 14. März 1885 in Bern, besuchte das dortige Gymnasium und studierte anschliessend Volkswirtschaft an der Universität Zürich. Ihre Inaugural-Dissertation der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich zum Thema «Beiträge zur Geschichte und Darstellung des schweizerischen landwirtschaftlichen Unterrichts», die 170 Seiten umfasst, wurde 1911 gedruckt. |
Bei der Planung der Landesausstellung 1914 in Bern erhielt Bähler den ehrenvollen Auftrag, eine schweizerische Schulstatistik aufzustellen und wurde Mitredaktorin der Huberschen Schulstatistik der Schweiz. Später publizierte sie Beiträge zur Situation des Bildungswesens in der Schweiz, z.B. «Die Organisation des öffentlichen Schulwesens der Schweiz». Da sie auch Gedichte und Erzählungen verfasste, fand sie wohl als Redaktorin und Mitherausgeberin der literarisch-religiösen Zeitschrift «Die Besinnung» ihre berufliche Erfüllung, bis der Zweite Weltkrieg die weitere Publikation viele Jahre verunmöglichte; von 1952–56 nahm sie ihre Tätigkeit als Redaktorin der Zweimonatszeitschrift, die von der Schweiz. Volksbibliothek empfohlen wurde, wieder auf. Sie verfasste Porträts und rezensierte neue Bücher und kam dadurch in engen Kontakt zu vielen wichtigen deutschsprachigen Schriftstellerinnen, Autoren und Theologen jener Zeit. In ihrem Nachlass finden sich Dankesbriefe von Maria Waser, Esther Odermann, Sophie Hämmerli-Marti, Rudolf G. Binding, Martin Beheim-Schwarzbach, Emmy Ball-Hennings u.a. Auch zwei Porträtkarten von Ilona Durigo (1881–1943) mit liebevoller Widmung bewahrte sie auf. Durigo, eine damals in ganz Europa bekannte ungarische Sängerin, unterrichtete über zehn Jahre am Zürcher Konservatorium Solo-Gesang. Es ist anzunehmen, dass Bähler bei ihr Gesangsstunden nahm.
Aus den an sie gerichteten privaten Briefen, meist von Freundinnen, wird «Emmy» als gütiger, hilfsbereiter, grosszügiger Mensch beschrieben, als eine kluge, warmherzige Frau, der sich überall «Herzen und Türen öffneten». Sie starb am 10.2.1970 im Altersheim Merligen, Gemeinde Sigriswil – und nur ein Jahr nach ihr auch ihre Lebensgefährtin Frida Humbel, die ebenfalls eine bemerkenswerte Persönlichkeit gewesen sein muss. In «Schule und Leben», der Zeitschrift des Vereins ehemaliger Handelsschülerinnen Zürich, schrieb Magda Neuweiler-Witte (1900–1992), Schriftstellerin und Mitarbeiterin bei der Zeitschrift «Die Besinnung», in einem Nachruf über ihre Kollegin Bähler, sie sei eine Frau gewesen «mit nobler Gesinnung, die ernst und heiter zugleich am Weltgeschehen teilnahm und die, in hohem Masse schöpferisch begabt, handelnd und denkend dem verborgenen Sinn des menschlichen Lebens nachgegangen ist». Emma Luzia Bähler selbst erwähnte in einem Text, den sie im März 1965 als 80-Jährige verfasste, in ihrem langen Leben seien drei Themen, drei Namen, drei Wirklichkeiten wichtig gewesen: Blumen – Bilder – Bücher.
Leider bleibt ungeklärt, wie die Schweizerin Bähler auf das Kind Frank Reiser aufmerksam geworden sein könnte. Vorstellbar ist, dass sie zwischen 1928 und 1931 Franks Vater, den deutschen Schriftsteller Hans Reiser, direkt oder indirekt kennen gelernt hat; vielleicht in Zusammenhang mit einem Buch, das sie für ihre Zeitschrift besprechen wollte? |
Hans Reiser reiste 1928 zum ersten Mal nach Peru, wo er über ein Jahr blieb. Am 27. April 1928, noch vor seiner Abreise nach Südamerika, liess er sich von Franks Mutter, Johanna Reiser, geb. Schröder (*20.12.1895 in Mierunsken, Regierungsbezirk Gumbinnen, Ostpreussen) scheiden. Das gemeinsame Kind Frank war damals 4-jährig. 1932 machte sich Reiser erneut auf nach Südamerika, diesmal war die Reise als endgültige Auswanderung geplant. Könnte die Scheidung oder die Auswanderung Reisers nach Peru – oder beides – der Grund dazu gewesen sein, eine geeignete Adoptivmutter für Frank zu suchen? Möglicherweise fühlte sich die leibliche Mutter der Aufgabe, ihren Jungen allein aufzuziehen, nicht gewachsen. Warum gab sie Frank in die Schweiz und verzichtete endgültig auf ihren Jungen, als Emma Bähler ihn 1934 adoptierte?
Was wusste Frank, der sich bestimmt an seine «richtige» Mutter erinnern konnte, über die Gründe seiner Adoption? Blieb Dr. Bähler mit Johanna Reiser in Verbindung? Wie wirkte sich die Trennung von seiner Mutter in Deutschland auf den Jungen aus? Korrespondierte Bähler mit Franks Vater, den eine schwere tropische Krankheit bereits 1935 zwang, nach Deutschland zurückzukehren? Es folgten bald die Wirren des Zweiten Weltkriegs, und Hans Reiser, ein ewig Ruheloser, zog weiter herum, lebte zuerst in Berlin, dann in Oberbayern, von 1938 bis 1939 in Italien, danach in Tirol, bis er sich 1941 im oberbayrischen Oberdiessen niederliess. Am 14. August 1940 kam seine Tochter Christina Margareta aus der Ehe mit Margarete Reiser-Reindl zur Welt. Wusste Frank, dass er auf einmal eine Halbschwester in Deutschland hatte, die 16 Jahre jünger war als er, lernte er diese je kennen?
Hans Reiser jun., ein Neffe in Berlin
Eines ist verbürgt: Dr. Bähler hielt nach wie vor Kontakt zu Verwandten von Frank in Deutschland. Erstaunlicherweise sind vier Briefe aus Berlin im Nachlass des Malers vorhanden, die darüber Auskunft geben:
Frank Bähler hatte nämlich einen Cousin (oder Halbbruder?) namens Hans Reiser, der etwa zehn Jahre älter war als er. (Frank wurde jedoch, als sein Vater starb, vom Amtsgericht Buchloe fälschlicherweise als «voller Bruder» von Hans erwähnt, was wegen der Erbschaft richtiggestellt werden musste.) Reiser war Arzt, und wahrscheinlich ist es derselbe Hans Reiser, den Bähler in seinem Testament vom 31. Dezember 1979 erwähnt: «Im weiteren bestimme ich, dass mein Vetter, Herr Hans Reiser, und seine Ehegattin, Frau Othilie Reiser, wohnhaft in 8000 München 80, Spessartstr. 16, Deutschland, fünf Bilder meines Vaters Hans Reiser und fünf weitere Bilder von mir nach Auswahl bei meinem Ableben erhalten, desgleichen eine Partie Bücher, ebenfalls nach Auswahl.» (Das Ehepaar Reiser schlug dieses Vermächtnis jedoch aus.)
In einem von Hand verfassten Brief an Frau Dr. Bähler vom 27.9.46 berichtet Professor Dr. Eugen Fischer aus Berlin über Hans Reiser, der damals mit dessen Tochter Sibylla Fischer verlobt war: «Von Hans wissen wir seit August 44 nichts. Damals war er Regimentsarzt in einem Infanterieregiment in der Moldau, wurde verwundet, schrieb, er hoffe, mit dem Flugzeug aus dem Lazarett noch wegzukommen. Diese Karte vom August war das letzte, was wir hörten. Wir hoffen, dass er am Leben ist …») Weiter schreibt Prof. Fischer, Hans Reiser sen. sei laut Zeitungsberichten vor kurzem in München gestorben (4. August 1946), und er versuche, den Erbanspruch seines zukünftigen Schwiegersohnes Hans zu vertreten. Er brauche dazu eine Geburtsurkunde von Frank, der denselben Erbanspruch habe wie Hans.
Franks Adoptivmutter muss sofort geantwortet haben, denn am 21. November 1946 meldete Prof. Dr. Eugen Fischer sich erneut aus Berlin:
Liebe Frau Bähler, haben Sie vielen Dank für Ihren Brief aus Aarau vom 3. November. Auch Ihre Karte aus Ascona hatte ich erhalten und mich über die im ganzen doch guten Mitteilungen aufrichtig gefreut. Nach dem Bild, das ich durch Hans und von Ihnen über Frank bekommen habe, nehme ich auch an seiner Entwicklung der Persönlichkeit lebhaften Anteil. So hat es mich sehr gefreut, dass er von Amsterdam glücklich zurück ist und Sie ihn auf gutem Wege wissen. Berlin ist zur Zeit keine Metropole, in die man nach Weltkenntnissen strebende junge Menschen einladen kann. Sonst müsste er sich hier einmal zeigen.
Ich zweifle nicht, dass eine beglaubigte Abschrift seines Taufscheines für die rechtlichen Zwecke, die ich für ihn verfolge, genügt. Ich habe auch meinen Zweifel, ob von Reiser sen. viel übrig geblieben ist. Aber aus seinen Verlagsrechten müsste doch noch etwas zu machen sein. Ich will mich darüber mit der Witwe in Verbindung setzen.
Dass wir uns in dem Leben, das in Berlin jetzt möglich ist, besonders wohl fühlen würden, wäre zu viel behauptet. Die geistige Betätigung steht unter mancher einschränkenden Bedingung von aussen und von innen unter dem Mangel der gerade für den geistigen Arbeiter vitalen Nährstoffe. Ich beschäftige mich tiefgehend mit der Schuldfrage; es tut mir leid, dass ich Ihnen eine demnächst erscheinende Broschüre nicht schicken kann. Sie erscheint unter dem Titel: «Blinde Macht» im Wedding-Verlag, Berlin. Vielleicht bekommen Sie sie über einen Buchhändler.
Viele Grüsse auch von meiner Frau und Sibylle. Stets Ihr ergebener
Eugen Fischer-Baling
Liebe Frau Bähler, haben Sie vielen Dank für Ihren Brief aus Aarau vom 3. November. Auch Ihre Karte aus Ascona hatte ich erhalten und mich über die im ganzen doch guten Mitteilungen aufrichtig gefreut. Nach dem Bild, das ich durch Hans und von Ihnen über Frank bekommen habe, nehme ich auch an seiner Entwicklung der Persönlichkeit lebhaften Anteil. So hat es mich sehr gefreut, dass er von Amsterdam glücklich zurück ist und Sie ihn auf gutem Wege wissen. Berlin ist zur Zeit keine Metropole, in die man nach Weltkenntnissen strebende junge Menschen einladen kann. Sonst müsste er sich hier einmal zeigen.
Ich zweifle nicht, dass eine beglaubigte Abschrift seines Taufscheines für die rechtlichen Zwecke, die ich für ihn verfolge, genügt. Ich habe auch meinen Zweifel, ob von Reiser sen. viel übrig geblieben ist. Aber aus seinen Verlagsrechten müsste doch noch etwas zu machen sein. Ich will mich darüber mit der Witwe in Verbindung setzen.
Dass wir uns in dem Leben, das in Berlin jetzt möglich ist, besonders wohl fühlen würden, wäre zu viel behauptet. Die geistige Betätigung steht unter mancher einschränkenden Bedingung von aussen und von innen unter dem Mangel der gerade für den geistigen Arbeiter vitalen Nährstoffe. Ich beschäftige mich tiefgehend mit der Schuldfrage; es tut mir leid, dass ich Ihnen eine demnächst erscheinende Broschüre nicht schicken kann. Sie erscheint unter dem Titel: «Blinde Macht» im Wedding-Verlag, Berlin. Vielleicht bekommen Sie sie über einen Buchhändler.
Viele Grüsse auch von meiner Frau und Sibylle. Stets Ihr ergebener
Eugen Fischer-Baling
Aus Berlin schrieb Sibylle Fischer am 20.II.47 an die «Sehr geehrte, liebe Frau Bähler» in Sachen Erbschaftsanspruch von Frank Bähler und schilderte die schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit in Berlin: … dass wir zu Fünfen, mit Sekretärin und Hausmädchen in einem kleinen, aber warmen Zimmer den Winter bis jetzt immer noch besser als manche anderen überstanden haben, dass nur leider meine Mutter der Kälte und der Unterernährung nicht standgehalten hat und nun schon mehr als vier Wochen im Bett liegt. Es ist ausser einem chronischen Asthma einfach ein Schwebezustand, der sich bei den augenblicklichen Ernährungsverhältnissen eben nicht beheben lässt. Mein Vater hat trotz grosser Beanspruchung durch seine Professur und seine publizistische Tätigkeit, und trotz der ungünstigen Lebensbedingungen die Schwierigkeiten dieses Winters gut überstanden. Nur in einem Punkt kann er sich mit dem Schicksal nicht aussöhnen, nämlich in Beziehung auf Kaffee. Er ist seit langen Jahren daran gewöhnt, sein Arbeiten mit Kaffee zu begleiten, und entbehrt nun tatsächlich, besonders bei dem hinzukommenden Kalorienmangel, diese Anregung und Erfrischung schmerzlich. Darum sagte er gestern zu mir: «Wenn du an Frau Bähler schreibst, dann klage ihr einfach mein Leid und frage einmal ganz schüchtern an, ob sie mir nicht vielleicht bei Gelegenheit ein Pfündchen … Ich würde mich dann so bald als möglich revanchieren, eventuell mit schönen Büchern oder sonst etwas Passendem.» Gewiss, liebe Frau Bähler, nehmen Sie diese offene Bitte nicht übel auf, denn Sie wissen, ohne dass ich ein Wort darüber schreibe, wie man in Deutschland lebt. Mir selbst geht es soweit gut. Ich pflege meine Mutter und kümmere mich um den Haushalt, und warte im übrigen darauf, dass meine Professoren entnazifiziert werden, damit ich dann meinen Doktor machen kann. Nichts aber sehne ich mehr herbei, als endlich eine Nachricht von Hans zu bekommen, die mir Hoffnung gäbe, dass er lebt und in absehbarer Zeit zurückkommt …
Dr. Emma Bähler muss sofort Kaffee nach Berlin geschickt haben, sie war nicht nur grosszügig und einfühlsam, sondern wusste, was für Entbehrungen die Menschen im zerstörten Berlin auf sich nehmen mussten.
Sibylle Fischer bedankte sich am 21.V.47: Sehr geehrte, liebe Frau Bähler, ich möchte Ihnen doch gleich mitteilen, dass uns vor etwa drei Tagen ein herrliches Kaffeepäckchen erreichte – in tadellosem Zustand – und dass wir uns alle ganz ausserordentlich darüber gefreut haben. Bei einem schnell bereiteten Mokka alter Klasse, der uns über alle Massen mundete, gedachten wir mit herzlichstem Dank der liebenswürdigen Spenderin. Die Familie ist begeistert und besonders der Vater dankt Ihnen, sehr geehrte Frau Bähler, ergebenst …
Weiter ist die Korrespondenz nicht vorhanden, und erneut stellen sich Fragen:
– Wann kehrte Hans Reiser aus der Moldau zurück? Ging seine Verlobung mit Sibylle Fischer in die Brüche? Später muss er gemäss dem bereits erwähnten Testament von Frank Bähler in München gelebt und geheiratet haben. Seltsamerweise findet sich ein Brief von Ottilie, der Frau von Hans Reiser, vom 20.11.72 aus München im Nachlass, in dem sie Frank um Papiere in Sachen Nachlassgericht bittet, und im Briefkopf steht: Hans Reiser, Herrenhemden nach Mass – Chemisier – Shirtmaker. Hatte dieser seinen Beruf als Arzt aufgeben müssen (vom Chirurgen zum Schneider) und besass nun ein Geschäft für Herrenhemden?
– Haben sich die beiden Halbbrüder oder Vettern Hans und Frank gut gekannt? Wie war ihre Beziehung?
– Wann kehrte Hans Reiser aus der Moldau zurück? Ging seine Verlobung mit Sibylle Fischer in die Brüche? Später muss er gemäss dem bereits erwähnten Testament von Frank Bähler in München gelebt und geheiratet haben. Seltsamerweise findet sich ein Brief von Ottilie, der Frau von Hans Reiser, vom 20.11.72 aus München im Nachlass, in dem sie Frank um Papiere in Sachen Nachlassgericht bittet, und im Briefkopf steht: Hans Reiser, Herrenhemden nach Mass – Chemisier – Shirtmaker. Hatte dieser seinen Beruf als Arzt aufgeben müssen (vom Chirurgen zum Schneider) und besass nun ein Geschäft für Herrenhemden?
– Haben sich die beiden Halbbrüder oder Vettern Hans und Frank gut gekannt? Wie war ihre Beziehung?
Als ich den Namen Eugen Fischer im Internet eingebe, um Näheres über ihn zu erfahren, zuerst Erschrecken: Eugen Fischer, Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin? Der berüchtigte Arzt, der durch seine Theorien über menschliche «Rassenmerkmale» nach den Mendelschen Regeln den Nationalsozialisten in die Hände gearbeitet hatte? Als ich den Namen nochmals tippe, diesmal mit «Baling» dahinter, stellt sich heraus: Eugen Fischer-Baling (1881–1964) war ein deutscher Bibliothekar, Historiker, Politologe, evangelischer Theologe und Schriftsteller! Tatsächlich gab es bereits am 24. Oktober 1945 durch die amerikanische Militärpolizei eine Verwechslung, d.h. man nahm Eugen Fischer fest, weil angenommen wurde, er sei der NS-Eugeniker-Arzt. Erst Ende Dezember konnte der Irrtum endlich aufgeklärt werden. Von da an nahm er seinen Heimatort in den Namen auf und nannte sich nur noch Fischer-Baling.
Die Tante und der Schachturnierweltmeister
Eine Nebenspur führt zur leiblichen Mutter von Frank Bähler. Johanna Reiser, geborene Schröder, die aus Ostpreussen stammte, hatte eine Schwester, Gertrud Helene Schröder (1892–1966), die 1924 den geschiedenen Siegbert Tarrasch heiratete, der jedoch bereits 1934 in München starb. Sie beerbte ihn zusammen mit zwei Töchtern aus seiner ersten Ehe: Grete Jira, Berlin-Wilmersdorf und Eva Gall, Nürnberg. Nach dem Tod seiner Tante Gertrude Helene am 4. Juni 1966 wurde Frank Bähler laut Erbschein des Amtsgerichts München (Nachlassgericht) der alleinige Erbe, aber erst 1986 gelangte das Staatsarchiv München bei Nachforschungen über den Nachlass von Dr. Siegbert Tarrasch via ein Rechtsanwaltsbüro an Rudolf Gall (Ehemann oder Sohn von Eva Gall?) in Unterölsbach-Berg mit der Mitteilung, die Erbscheine seien ihnen nun zugegangen. «Ich bitte um Mitteilung, ob Ihnen zwischenzeitlich über Herrn Frank Bähler in Aeschi etwas bekannt ist.» – Ob dieser schliesslich etwas erbte? Beglaubigte Abschriften des Falles finden sich jedenfalls in seinem Nachlass.
Doch es geht hier nicht um Geld, sondern um den faszinierenden Mann der Tante, mit dem sie zehn Jahre verheiratet war: Siegbert Tarrasch (geb. 1862 in Breslau, gestorben 17. Februar 1934 in München). Tarrasch, jüdischer Herkunft, studierte Medizin und praktizierte als Nervenarzt. Seine Passion war das Schachspiel, und deshalb wurde er berühmt – als einer der weltbesten Spieler, als «Turnierweltmeister»! Er verfasste drei wichtige Bücher über Schach, längst Klassiker der Schachliteratur geworden, schrieb für Schachzeitschriften, gab von 1932–1934 seine eigene Zeitschrift («Tarraschs Schachzeitung») heraus und versuchte, Schach in Deutschland als Volkssport bekannt zu machen. Gewisse Eröffnungsvarianten sind nach ihm benannt. Es gibt sogar zwei Biografien über Tarrasch.
In seinem Privatleben – er war Vater von drei Söhnen und zwei Töchtern – häuften sich tragische Fälle. Er verlor innert weniger Jahre seine drei Söhne. Der Älteste, Friedrich Max Tarrasch, Dr. phil., Leutnant und Inhaber des Eisernen Kreuzes, kam 1915 an der Westfront ums Leben; der zweite Sohn, Hans Richard, starb 1916 bei einem Unfall; der dritte Sohn, Paul, starb bereits 1912 im Alter von 20 Jahren (Suizid aus Liebeskummer der als «akute Herzlähmung» vertuscht wurde).
Der Vater – ein Dichter und Vagabund
In der Biografie von Frank Bähler klaffen Löcher, die im Nachhinein kaum zu füllen sind. Auch seine spätere Lebensgefährtin, die fünf Jahre jüngere Lehrerin Sylvia Elisabeth Mosimann, lebt inzwischen nicht mehr und kann nichts mehr erzählen. Man bekommt den Eindruck, der Künstler sei ein sehr bescheidener, introvertierter Mensch gewesen, der sich nie in den Vordergrund stellte und sich am liebsten in seinen Bildern ausdrückte.
Nur indirekt kann man versuchen, ihm näher zu kommen – durch die Menschen, die ihn geprägt haben oder von denen er etwas mitbekommen hat. Seine künstlerische Begabung hat er von seinem Vater geerbt, der jedoch durch Abwesenheit glänzte. In einem längeren Beitrag, der 1947 in der Literarischen Monatsschrift «Welt und Wort» erschien, schildert Herbert Günther, selber auch Schriftsteller, seinen Freund Hans Reiser als «Dichter und Vagabund», dessen Leben Stoff für mehr als einen Roman ergäbe – und teilweise sind diese tatsächlich geschrieben worden. Sein Nachlass – 17 Manuskripte/Typoskripte, 78 Briefe, 15 Fotos, 1 Scherenschnitt, 1 Zeichnung – ist im Städtischen Literaturarchiv und Bibliothek Monacensia im Hildebrand-Haus in München archiviert.
In Stichworten die Biografie von Hans Reiser sen.: geboren am 29. März 1888 in München, gestorben am 4. August 1946 ebenfalls in München. Sohn eines Fabrikarbeiters. Der Grossvater besass einen Hof in Farchant bei Garmisch, war menschenscheu und hasste die Stadt.
Hans beginnt eine Lehre als Schlosser, danach als Glasmaler, bricht beide ab und arbeitet als Fräser in einer Autofabrik in Eisenach. Nach einem schweren Unfall wird er Büroangestellter in München. Zweijährige Wanderschaft nach Tirol, Italien und in die Schweiz. Kontakte zur Schwabinger Bohème. 1913 erste Heirat. Er lebt bis 1914 in Brüssel und meldet sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in München als Freiwilliger. Günther dazu: «Dreieinhalb Jahre steht er in vorderster Front im Westen; sein Söhnchen sieht er zum ersten Mal, als er zwei Jahre alt ist. Ende Oktober 1918, acht Tage vor dem unerwarteten Ausbruch der Revolution, desertiert er (…) Er verkriecht sich zwei Jahre im Gebirge im Tölz, dreissigjährig, doch ein alter, kranker Mann. Seine Gesundheit ist zerbrochen, seine Ehe ist zerbrochen, aus <Trotz> schliesst er gleich wieder eine zweite, aber auch ihr war keine Dauer beschieden.» (Das erwähnte Söhnchen kann unmöglich Frank, erst 1924 geboren, sein.)
Hans Reiser schlägt sich als Schreiner durch und schreibt sein Kriegsbuch «Nacht»; bei Erscheinen 1920 hat er damit sofort Erfolg. Er schreibt weiter, Romane, ein Kinderbuch, Sonette, eine Komödie, eine Novelle. Mühsam verdient er seinen Lebensunterhalt als kunstgewerblicher Zeichner und Fabrikarbeiter, versucht es als freier Schriftsteller und scheitert. Ein Romanauftrag rettet ihn, er reist auf den Spuren von François Villon durch Frankreich, «Der geliebte Strolch. Ein Gaunerroman» entsteht. Reiser erhält 1928 dafür den Kleistpreis, einen angesehenen deutschen Literaturpreis. Dann bricht er wieder auf, diesmal nach Südamerika.
Mit einem Dollar in der Tasche kommt er in der Hafenstadt Callao in Peru an, erkundet ein Jahr lang das fremde Land, 5000 Kilometer auf Land- und Wasserwegen, malt, fotografiert, schreibt, fühlt sich wohl. Das Reisebuch über dieses Abenteuer (Peter J. Oestergaard Verlag, Berlin-Schöneberg 1932) ist antiquarisch nach wie vor greifbar: «Abenteuerliche Wanderung durch Peru», reich bebildert, gut gegliedert, 244 Seiten Informationen aus erster Hand, die zu jener Zeit völlig neu gewesen sein müssen. Erstaunlicherweise ist das Buch heute keineswegs veraltet oder verstaubt, es wirkt, als wäre es gerade geschrieben worden, in einem klaren Stil ohne Sentimentalitäten, oft mit Selbstironie, klug, gut beobachtet, sehr informativ und spannend:
(…) Mit vierzig Centavos in der Tasche kam ich in Callao an. Es war am frühen Morgen. Ich fuhr mit der Strassenbahn nach Lima. Was eine Tasse Kaffee im Café Maron kostet, wusste ich noch. Es reichte genau. Ich drückte mich an den Häuserwänden entlang und setzte mich in eine dämmerige Ecke des Lokals. Ich sah übel aus, gelb und eingefallen wie eine verschrumpelte Zitrone, zerstochen und zerkratzt, das Gesicht voll Ausschlag, das linke Auge halb erblindet; der Anzug zerrissen und schmutzig; mein Strohsombrero schwarz wie Russ und durchlöchert wie ein Sieb, die plumpen Stiefel seit Monaten nicht geputzt. Ich wollte nicht gesehen werden und auch niemanden sehen; ich fürchtete die Stadt, die Schaufenster, die Autos, die eleganten Frauen, ich war ein Provinzler geworden, ein Bauer, ein Wilder. Ich hatte Peru von Süden nach Norden und von Osten nach Westen durchwandert, in zwölf Monaten über fünftausend Kilometer zurückgelegt. (Etwa die Strecke Ostende – Konstantinopel.) Sollte ich das dem Oberkellner erzählen, der mich so sonderbar anschaute?
Ein harmloser Konquistador, ein reichlich später Nachkomme Pizarros, war ich durch das Land gezogen und hatte nichts erobert als ein Paket Photos und ein Päckchen beschriebener Blätter.
Den Hut tief ins Gesicht gedrückt, schlich ich zu meinem Freund, bei dem ich meine Sachen hinterlassen hatte. Er erschrak, aber ich beruhigte ihn: «In einer halben Stunde wirst du mich wieder kennen!» Nahm ein Bad, rasierte mich, schloss meine Koffer auf und zog mich andächtig um.
Den Hut tief ins Gesicht gedrückt, schlich ich zu meinem Freund, bei dem ich meine Sachen hinterlassen hatte. Er erschrak, aber ich beruhigte ihn: «In einer halben Stunde wirst du mich wieder kennen!» Nahm ein Bad, rasierte mich, schloss meine Koffer auf und zog mich andächtig um.
Als ich das leichte Zeug auf dem Leib hatte, war mir, als wären Anzug und Schuhe aus Seidenpapier.
Auch Rolf traf ich wieder. Er war zwar nicht aufgefressen worden, aber es war ihm nicht viel besser ergangen als mir. Eingedenk des gemeinsamen Erlebten versöhnten wir uns und waren wieder die alten Freunde.
Zwei Monate später kam ich in Paris an. Ohne Geld. Ich begegnete einem Freund, und wir nahmen ein Aperitif. Ich sass da, und mein Freund glaubte nicht, dass ich wieder da war. Und ich selbst glaubte es auch nicht. (S. 206–207)
Auch Rolf traf ich wieder. Er war zwar nicht aufgefressen worden, aber es war ihm nicht viel besser ergangen als mir. Eingedenk des gemeinsamen Erlebten versöhnten wir uns und waren wieder die alten Freunde.
Zwei Monate später kam ich in Paris an. Ohne Geld. Ich begegnete einem Freund, und wir nahmen ein Aperitif. Ich sass da, und mein Freund glaubte nicht, dass ich wieder da war. Und ich selbst glaubte es auch nicht. (S. 206–207)
Fast beneidet man den Autor um diese Reise, ein echtes Abenteuer. Man begreift, dass ihm Peru keine Ruhe mehr liess und er alles daran setzte, seinen Traum einer Auswanderung dorthin mit einer Gruppe verschiedenster Leute zu realisieren, die sich von seiner Begeisterung anstecken liessen. Sein Ziel war es, weit weg von Europa mit seinen Zwängen ein selbstbestimmtes, freies, naturverbundenes Leben im Kollektiv zu führen.
Reiser wurde jedoch vom Pech verfolgt, einer richtigen Pechwelle – und schaffte es trotzdem, daraus einen Roman zu machen mit dem Arbeitstitel «Der neue Robinson», später «So war das mit Tetjus Uhl. Eine Robinsonade» genannt; das Buch erschien erst 1939. Drei Jahre lebte er in Peru als Landwirt und Künstler. Sein Freund Herbert Günther berichtet über diese Zeit: «Nach zwei weiteren Jahren, im Herbst 1935, kam Reiser in Hamburg wieder an. Und wieder fehlte das Fahrgeld bis Berlin. Er war lange und schwer in Brasilien erkrankt, die Postverbindung war immer wieder unterbrochen, nur mit Mühe fand er einen Weg zur Heimkehr. Reiser war noch magerer als früher und völlig mittellos. Das Unternehmen war gescheitert. Aber er hatte Manuskripte bei sich, farbig und kompositorisch prachtvolle Aquarelle, ethnographisch genau und doch stimmungsvoll, auch vorzügliche Zeichnungen. So hatten Wort und Bild den Urwald eingefahren, sein wahres Gesicht. Die Verwertung war schwieriger, als gedacht, es gelang ihm nur mit grosser Mühe, Fuss zu fassen. Der Kampf um das tägliche Brot ging weiter.»
«Hätte ich Titel, müsste ich ein Buch schreiben!»
Was für ein faszinierender Vater, ein unsteter Geist mit einem schwierigen, alles andere als bürgerlichen Leben. Umso wichtiger mag es für Frank gewesen sein, nach den ersten turbulenten Kindheitsjahren in Aarau bei den Damen Bähler und Humbel Stabilität und Ausgeglichenheit zu finden. Vielleicht litt aber auch er manchmal unter Fernweh und liess sich deshalb nach Abschluss seines Studiums, zuletzt an der Graduate School of Design der Harvard University Massachusetts, längere Zeit in New York als Ausstellungsgrafiker nieder. Es könnte sein, dass er Distanz zur Schweiz brauchte, um allein und unbeeinflusst seinen künstlerischen Weg zu machen.
Über seine Jahre in den USA ist wenig bekannt. Es war die Zeit, als der Surrealismus vom Abstrakten Expressionismus abgelöst wurde, die Zeit von Jackson Pollock, Max Ernst, Mark Rothko, Robert Motherwell. Vermutlich kannte Bähler Sonja Sekula (1918–1963), «golden girl» genannt, und gehörte vielleicht sogar zum Kreis der Künstler, die im Familienapartment Sekula an der Park Avenue in New York ein- und ausgingen. Sonja stammte aus Luzern und zog mit ihren Eltern 1936 nach New York. Sie war hochbegabt und früh sehr erfolgreich, auch als Dichterin, aber eine tragische Figur. Bereits mit 21 Jahren erlitt sie einen ersten psychotischen Zusammenbruch und wechselte, von ständigen Zweifeln am Wert ihrer künstlerischen Arbeit gepeinigt, von einer psychischen Klinik zur andern, bis die Familie aus finanziellen Gründen gezwungen war, nach Europa zurückzukehren. Ohne ihre Freunde und ohne die kreativen Impulse New Yorks fühlte sie sich in der Schweiz verloren und erhängte sich, 45-jährig, in ihrem Studio. Erst viel später, 1996, wurde sie wiederentdeckt. Vom 11.6. bis 25.9.2016 wurde im Kunstmuseum Luzern eine Sommerausstellung mit Werken von "Sonja Sekula, Max Ernst, Jackson Pollock & Friends" gezeigt. Auffallend ist eine gewisse Nähe von Bählers Werk zu jenem von Sekula. In seinem Nachlass befinden sich mehrere Werke von ihr.
Die letzten vier Jahre, bevor er sich 1961 endgültig in der Schweiz niederliess, habe Frank Bähler «als Segelkapitän auf hoher See» verbracht, heisst es in einer biografischen Notiz. Über diese Zeit weiss man kaum etwas. Kam plötzlich erneut Reiselust, Fernweh, der Drang, die weite Welt und Natur zu erleben auf wie bei seinem Vater? Und wann und wo lernte er Sylvia Mosimann kennen, mit der er viele Jahre in Aeschi zusammenlebte und die sich über seinen Tod hinaus für ihn einsetzte? Kunsthandwerklich begabt, stellte sie an der Gedenkausstellung zum fünften Todestag Bählers neben seinen Werken zwei eigene Stickereien aus. Auf einem Foto aus glücklichen Tagen des Paares vom 21. Juli 1979 (nach dem Seenachtsfest) steht als Legende: «Frank und Silvie kurz vor der OP noch unbewusst.»
Aeschi, ein kleines Dorf am Fusse des Niesen, mit Blick auf den Thunersee und die Alpen, ist mit dem Postauto von Spiez aus in einer Viertelstunde erreichbar. Der Ort, in einem Erholungsgebiet mit zahlreichen touristischen Möglichkeiten, liegt etwas abseits, weit weg von der Hektik einer Grossstadt wie New York. Wählte der Künstler absichtlich diesen Rückzug aufs Land in ein einfaches, ruhiges Leben – ähnlich wie Hans Reiser, sein Vater, seine letzten Jahre in Oberdiessen, einem Ortsteil der kleinen oberbayerischen Gemeinde Unterdiessen verbracht hatte?
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In einer Vernissageansprache (ohne Datum) – von jemandem verfasst, der Bähler privat sehr gut gekannt haben muss (Sylvia Mosimann?) – steht: «Wenn er etwas ausführte, so tat er es gründlich und sachverständig. Er hasste Halbheiten. So hat er auch dafür gesorgt, dass seine Bilder perfekt gerahmt waren, was er in früheren Jahren noch selbst ausführen konnte. Frank Bähler war nicht Freund von Überschwänglichkeit. Seine Leidenschaft war tief, echt, gründlich und beharrlich. Und das wohl ist in allen seinen Bildern spürbar, ein Hauch von Ewigkeit.»
Sein Werk, stark von seinen Architekturkenntnissen (Strukturalismus) und von seiner grafischen Arbeit beeinflusst, oft in leuchtenden Farben, abstrakt, mit geometrischen Formen und Ornamenten, umfasst Bilder in Mischtechnik (Tusche, Ölkreide und Gips), Aquarelle, Collagen, grafische Arbeiten, Reliefs und Entwürfe für Glasfenster und Tapisserien.
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Bähler blieb auch in Aeschi ein kritischer, politisch interessierter Mensch, las täglich mehrere Zeitungen, verfolgte das Weltgeschehen aufmerksam und ging als Schweizer Bürger stets abstimmen. Die Öffentlichkeit jedoch muss er in jener Zeit gescheut haben, er stellte 1974 und 1975 im privaten Kreis in seinem Chalet an der Hondrichstrasse 99 aus, so dass seine Werke vor allem von Freunden und Bekannten erstanden wurden. 1976 machte er eine Ausstellung in der Galerie Ris und Göbel im «Chlapper-Läubli» am Nydeggstalden in Bern. Finanziell kam er knapp durch, er war finanziell schlecht abgesichert – ein typisches Künstlerdasein.
Ausstellungen:
1971 und 1975 im eigenen Chalet, Hondrichstrasse 99, Aeschi b. Spiez
1976: Galerie Ris und Göbel, «Im Chlapper-Läubli», Nydeggstalden, Bern
1981: Reformierte Heimstätte Gwatt (3 Dutzend Bilder und Teppichentwürfe)
1986: In den Räumen der Berner Lebensversicherung, Breitenrainplatz, Bern
1990: Gedenkausstellung zum 5. Todestag, Schlosskirche Spiez, unter dem Patronat der Stiftung Schloss Spiez.
Präsident des Stiftungsrates: Dr. Robert Bauder, Einführung in das Werk: Dr. Hans Christoph von Tavel (ehem. Direktor des Kunstmuseums Bern).
2002: Die Hinterlassenen. Ausstellung Galerie Rosengarten, Thun
2003: Die Hinterlassenen. Ausstellung Galerie Rosengarten, Thun
Kommentare aus Kritiken über das Werk von Frank Bähler
«Die frühesten noch vorhandenen Arbeiten sind von der lebendigen Auseinandersetzung mit Paul Klee und mit Hans Arp geprägt. Aus den 60er Jahren stammen farbintensive, tachistisch anmutende, aber überaus formbewusste Aquarelle. Die Begegnung mit der amerikanischen Kunst wird hier spürbar, der sich der Künstler aber keineswegs ausliefert.» (J.L. im «Berner Oberländer» am 16.11.1974)
«Ohne Ausnahme bewegen sie sich im Abstrakten, sind farblich ausgeglichen und zumeist einheitlich getönt. Einige wirken wie Intarsien oder Marmor, andere könnten als Glasscheibenmuster dienen.» («Der Bund», 19.9.1981)
«Im spielerisch-schöpferischen Gestalten lässt F.B. im Abstrakten der Entfaltung von Linien freien Lauf. Da scheinen sie sich in der Bewegtheit ihrer Schwingungen zu verdrängen oder in phantasievoll gebuchteten Formen übereinanderzulappen. Dieser schwungvollen Unruhe wirkt die kantige Härte gerader Linien entgegen. Geometrisches sucht freie Phantasie in Rahmen zu fassen. In den Flächen der Schnittpunkte wird die Gegensätzlichkeit von statischen und beweglichen Elementen deutlich. Gerade dadurch erhalten die Bilder eine Vorder- und Hintergründigkeit. (…) Am liebsten aber würde F.B. Glasfenster und Wandteppiche gestalten. In zündholzschachtelgrossen Miniaturen zeichnet er seine Entwürfe. <Das ist einfacher, der Überblick ist grösser>, stellt er fest. <Es braucht genauso viel Phantasie, sich den Teppich von einer Miniatur oder von einem grösseren Blatt vorzustellen.>» («BZ», 10.9.1981)
«Ein bleibendes Werk in der Entwicklung der Zeit»: Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der ausgestellten Arbeiten erwähnte Hans Christoph von Tavel anhand des Bildes auf der Einladung zur Ausstellung. <Frank Bählers Werk lädt zum Träumen und Sinnieren ein wie zur gedanklichen Form- und Farbanalyse.> Kosmische Visionen zeigen bei Bähler kein Chaos, sondern den Gesetzen des Kosmos untergeordnete Abläufe und Erscheinungen. (…) Geheimnisvolle Schriftbilder verweisen auf die Lesbarkeit seiner Bilder; seine zackigen Sterne entstanden bei nächtelanger Jazzmusik. (Guido Lauper über die Ausstellung im Schloss Spiez, 1990, «Der Bund?»)
«Ein bleibendes Werk in der Entwicklung der Zeit»: Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der ausgestellten Arbeiten erwähnte Hans Christoph von Tavel anhand des Bildes auf der Einladung zur Ausstellung. <Frank Bählers Werk lädt zum Träumen und Sinnieren ein wie zur gedanklichen Form- und Farbanalyse.> Kosmische Visionen zeigen bei Bähler kein Chaos, sondern den Gesetzen des Kosmos untergeordnete Abläufe und Erscheinungen. (…) Geheimnisvolle Schriftbilder verweisen auf die Lesbarkeit seiner Bilder; seine zackigen Sterne entstanden bei nächtelanger Jazzmusik. (Guido Lauper über die Ausstellung im Schloss Spiez, 1990, «Der Bund?»)
Hans Christoph von Tavel, als langjähriger Direktor des Berner Kunstmuseums sicher einer der besten Kenner von Frank Bählers Werk, soll – laut Guido Lauper – anlässlich der Vernissage der Ausstellung in Spiez u.a. erklärt haben, der Künstler habe der Unsicherheit seiner Jugend eine strenge formale Ordnung gegenübergestellt, und zwar «nicht als Wiedergabe von etwas Bestehendem, sondern als Idealbild einer Utopie». «Natur und Architektur begegnen sich in Bählers Bildern. Organische Formen werden mit geometrischen konfrontiert und einander wie Pole gegenübergestellt.»
Frank Bähler selbst hat wenig zum Verständnis seines Werks beigetragen. Sein Credo hiess: «Meine Bilder haben keine Titel, denn mein Anliegen ist es, das Sie sich persönlich mit den Bildern auseinandersetzen. Hätte ich Titel, müsste ich ein Buch schreiben.»
Es wird eine grosse Herausforderung der Frank Bähler Stiftung sein, den künstlerischen Nachlass dieses bescheidenen, vielseitigen Künstlers, der sich nach aussen nie aufdrängte, zu wahren, zu verbreiten und zu dokumentieren.
Barbara Traber, Ende Juni 2016
Barbara Traber, Ende Juni 2016